FIFA 11

Aus Liebe zum Realismus

Erster Eindruck Benjamin Kratsch

Fussball ist keine Choreographie, kein Synchronspringen bei dem man einen Ablauf immer und immer wieder übt und schlussendlich auswendig abspult. Fussball ist extrem körperbetont, da wird geschoben, gedrängelt und getreten, Ausserdem muss es immer extrem schnell gehen: Flanke mit der Brust annehmen, abtropfen lassen, hier ein Haken, da ein Spurt. Soll ich abspielen, die Kugel reinflanken oder direkt draufhalten? Entscheidungen müssen in Sekundenbruchteilen fallen, und das ist etwas was Electronic Arts im neuen „FIFA 11“ unbedingt herausblitzen lassen will. Um jeden Preis, und das ist nicht nur gut wie wir auf der Europapremiere in München erlebt haben.

Drei Schritte in Richtung "PES"

So brillant sich "FIFA 10" und sein WM-Ableger auch spielen mögen, schlussendlich wirkt das alles eine Nuance zu perfekt. Beim Pass gleitet der Ball wie an einer Schnur gezogen von einem zum anderen Spieler. Bei Weltstars wie Lahm, Schweinsteiger oder Iniesta mag das realistisch sein, aber gerade junge, unerfahrene Spieler agieren in der Realität oft viel hektischer. Um das auch auf dem Platz abzubilden, haben die Sportgurus aus Vancouver "Pro Passing" entwickelt. Kurz gesagt: „FIFA 11“ wird in erster Linie ein Game für Fans und beinharte Fussballprofis. Denn die Qualität eines Passes hängt jetzt von mehreren Faktoren ab: Neben der Position zum Ball und Timing-Fragen spielt vor allem die Spielerstärke eine wichtige Rolle. Beispiel: Ein eleganter Mittelfeldspieler wie Basels Yapi schlenzt die Kulle auch in Bedrängnis zentimetergenau zum Mitspieler, während ein nervöser Jungspund eines Drittligisten froh ist, den Ball überhaupt fünfzehn Meter geradeaus passen zu können. Das hat Vor- und Nachteile. Toll ist es, weil sich „FIFA 11“ weniger gekünstelt, also viel echter, lebendiger und vor allem unberechenbarer anfühlt. Problematisch sehen wir allerdings den harten Schnitt für Einsteiger: Wer nicht gerade monatelang mit „FIFA 10“ verbracht, tut sich verdammt schwer präzise Pässe zu spielen, und wird vor allem beim Kurzpassspiel kurz vor dem Strafraum immer wieder Schiffbruch erleiden. Selbst die Routiniers unserer Redaktion brauchten gut eine Stunde, um sich wirklich einzuspielen. All diese Faktoren wie Position zum Ball, Schussstärke etc. zu berücksichtigen, und so auch mal einen tödlichen Pass zu landen. In Sachen Gameplay nähert sich „FIFA 11“ also sehr stark dem deutlich langsameren "PES 2011" an, und legt deutlich mehr Wert auf Taktik als sein Vorgänger. Das ganze Gameplay fühlt sich dadurch zwar viel mehr nach einem echten Fussballspiel an, dem Spielfluss wird allerdings sehr viel Dynamik genommen. In „FIFA 10“ konnte man noch mit schnellen Pässen ruck zuck das Mittelfeld überbrücken und sich dadurch viel mehr auf das Rausspielen von Torschussmöglichkeiten konzentrieren. In „FIFA 11“ hingegen gibts deutlich mehr Mittelfeldgeplänkel und dadurch tendenziell weniger Torraumszenen. Von den 16 anwesenden Journalisten taten sich quasi alle erstaulich schwer Tore zu schiessen. Die meisten Matches gingen 1:0, 1:1 oder maximal 2:1 aus. Eventuell sollte EA hier wirklich die Realismusschraube ein wenig nach hinten ziehen und sich nicht zu sehr an „PES“ anschmiegen. Denn gerade für das schnelle, zackige und trotzdem anspruchsvolle Gameplay lieben wir „FIFA 10“ und das noch deutlich bessere „FIFA World Cup 2010“.

Rooney – das Kampfschwein: Ball abschirmen mit allen Mitteln

Ein weiteres Feature, das EA sehr hoch hält, ist "Personality Plus". Was sich wie ein typischer Begriff aus den Schatztruhen der Marketingabteilung anhört entpuppt sich als richtig gute Idee, die dem Spiel neuen Drive gibt. Die Idee: Nicht jeder kann alles. Der Autor denkt mal zurück an seine aktive Fussballzeit – er war zwar meist schneller als die anderen, konnte besser  dribbeln – aber am Abschluss hats dann doch öfter gehapert. Nobody is perfect und diese individuellen Stärken und Schwächen der Stars bringt EA authentisch wie nie zuvor auf den Platz. Um die Auswirkungen zu demonstrieren, lässt Produzent David Rutter aus seinem altersschwachen Dell-Laptop einen extrem starken Spieler gegen einen sehr schwachen Spieler antreten (lieber Controller von EA Vancouver – ihr habt 10 Millionen „FIFA 10“ weltweit verkauft, gönnt dem armen Mann einen Rechenknecht, der nicht unter der „Last“ eines Videos abstürzt). Die Aufgabe: Eine Flanke aus der Luft per Fallrückzieher annehmen und die Kugel ins Tor verfrachten. In der Realität ist das ziemlich knifflig, denn Zeit des Absprungs, Sprunghöhe und Schusstechnik müssen perfekt harmonieren. Und tatsächlich: Während der Topspieler genau richtig abspringt, sich blitzschnell dreht und die Kugel im Netz versenkt, hat der schwächere Spieler echte Probleme überhaupt im passenden Moment hochzusteigen, eine Drehung auszuführen, und dann auch noch den Ball zu treffen. Auch die Charaktereigenschaften der einzelnen Spieler sorgen immer wieder für ein Schmunzeln: Kampfschwein Rudi Rooney schmeisst sich wie Stier auf den ballführenden Torrero, während sein Kollege Berbatov bei Manchester United nur langsam hinterher trabt. Ein Phänomen, was wir nicht selten in der Premiere League dieses Jahr bestaunen konnten. Torgranate Ronaldo hingegen hält wenig von guter Abwehrarbeit und wartet lieber auf Zuckerpässe im Mittelfeld. „Püh, soll doch der Pöbel hinten ausputzen, ich style solange meine Haare“, wird sich der Model-Sportler denken. Generell sind die Test-Matches dadurch deutlich weniger vorhersagbar, die Mannschaften unterscheiden sich stärker als in allen "FIFA"-Ablegern zuvor. Egal ob im Sturm, im Mittelfeld oder in der Abwehr – die individuelle Klasse der Sportler entscheidet über Ballgewinn oder -verlust. So haben schwächere Verteidiger einen geringeren Aktionsradius als grosse Stars wie Puyol, lassen sich leichter umdribbeln und packen aus Frust schon mal die Sense aus. Barca-Verteidiger Puyol dagegen grätscht millimetergenau, spielt faire Tacklings und luchst dem gegnerischen Stürmer selbst in dramatischen Situationen noch den Ball ab.

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